Hier im Forum werden diese Fragen meistens entweder mit dem lakonischen, mehr oder weniger nichtssagenden Verweis „Im Bundesland XY wird Z ausgebildet“ beantwortet oder der Fragende mit einer Vielzahl von wenig transparenten Einzelempfehlungen nach dem Muster „Mach ABC, das hat für mich immer am besten funktioniert/wird vom SEK Dingenskirchen trainiert/ist im usbekischen Antiterrorkrieg entwickelt worden“ bombardiert.
Ich möchte in diesem Beitrag den Versuch unternehmen, einmal schrittweise, schlüssig und objektiv begründet zu entwickeln, was in meinen Augen ein sinnvolles Trainingskonzept ausmacht. Ich hoffe damit, einige der wiederkehrenden Fragen zu beantworten und den einen oder anderen Denkanstoß liefern zu können.
Dabei ist es prinzipiell erstmal unerheblich, ob meine Zielrichtung privater Selbstschutz, polizeiliche Eigensicherung oder Festnahme/Kontrolle ist, denn im Zentrum meiner Erwägungen sollte zunächst erstmal spektrumsübergreifende Funktionalität stehen.
Funktionalität ergibt sich meiner Erfahrung nach nicht aus dem Vorhandensein von ganz bestimmten, möglichst verletzungsträchtigen oder möglichst vielen Einzeltechniken, sondern vielmehr aus zwei Grundkomponenten, von denen eine system- und die andere personenabhängig ist.
Die systemabhängige Komponente ist das, was im englischsprachigen Raum als „delivery system“ bezeichnet wird. Die am nächsten kommende deutsche Entsprechung könnte wohl am ehesten etwas wie „Kernstruktur des Systems“ sein. Gemeint ist damit die systemtypische essentielle Grundmotorik, bestehend aus Körperhaltung/Distanzverhalten, den das System prägenden typischen Grundtechniken und der grundlegenden Trainingsmethodik. Am Beispiel Boxen wäre das z.B. die boxerische Grundhaltung mit Doppeldeckung, die Grundtechniken Gerade/Haken/Uppercut und die Trainingsmethodiken Pratze/Sandsack/Sparring. Diese Kernstruktur muß in sich schlüssig und erfolgversprechend sein.
Eine funktionierende Kernstruktur erlaubt es dem Anwender, der sie beherrscht, mit relativer Leichtigkeit andere Techniken, die in den entsprechenden taktischen Kontext passen, binnen kurzer Zeit in sein Repertoire zu integrieren. Jemand, der die boxerische Kernstruktur korrekt gelernt und verinnerlicht hat, kann z.B. relativ einfach mit überschaubarem Trainingsaufwand verschiedene andere Schlagtechniken wie Ellenbogen, Handballenstöße usw. zur Anwendungsreife bringen, weil er die motorischen und taktischen Grundlagen dafür bereits hat. Die Kernstruktur ist also das bestimmende zentrale Element im Trainings- und Kampfverhalten des einzelnen Anwenders, an das zusätzliche Inhalte nach Bedarf „angedockt“ werden können. Schlußendlich entscheidet sie in erster Linie über den praktischen Nutzwert der trainierten Inhalte.
Mit der personenabhängige Komponente ist gemeint, daß jegliches Trainingssystem und jegliche Einzeltechnik nur dann etwas taugt, wenn der Anwender nach dem Erlernen einer Technik die Zeit und Mühe investiert, sie zur Anwendungsreife zu bringen. Die tatsächliche Anwendung in einer unabgesprochenen freien Auseinandersetzung mit einem sich ernsthaft wehrenden Gegner, der ebenfalls in Siegesabsicht handelt, erfordert mehr und andere Fähigkeiten als das bloße Reproduzieren von Techniken in einer vorgegebenen Sequenz mit einem kooperativen Trainingspartner (selbst wenn dieser einen vom Drehbuch vorgegebenen Widerstandsgrad aufbringt). Gelernt werden kann sowas nur durch tatsächliches freies Kämpfen (vulgo Sparring/Randori) in erheblichem Umfang.
Daraus ergibt sich gerade für einen so vielfältigen Bereich wie polizeiliche Zwangsmaßnahmen, daß es nicht damit getan ist, ein paar voneinander isolierte Techniken für Einzelsituationen zusammenzustellen. Ich treffe regelmäßig AZT-Trainer (meistens solche, die keinen kampfsportlichen Background haben), die im Grunde eine Art mentalen Baukasten verwenden... ein Modul Blutprobenentnahme, ein Modul Festnahmetechniken, ein Modul Durchsuchung usw. So etwas wird immer unzusammenhängendes Stückwerk bleiben. Auch (bzw. gerade) im behördlichen Training muß im Zentrum eine Kernstruktur, ein „delivery system“ stehen, das keine technischen Einzellösungen und isolierten Kniffe, sondern situations- und distanzübergreifende Kampfkompetenz „aus einem Guß“ zur Überwältigung eines sich wehrenden Gegners vermittelt. An diese Kernstruktur können dann Spezialthemen wie die o.g. Inhalte angekoppelt werden.
Aus den obigen Erwägungen folgt natürlich die Frage, anhand von welchen Kriterien beurteilt werden kann, ob eine bestimmte Kernstruktur wirklich gut funktioniert. Aus Gründen der Vergleichbarkeit halte ich eine anekdotische Beweisführung anhand der Echteinsatzergebnisse von Einzelpersonen oder Einheiten nicht für eine saubere Lösung, weil es sich erstens dabei immer um unterschiedliche Situationen und Sachverhalte handelt und zweitens deswegen die Häufigkeit von zumindest einigermaßen vergleichbaren Ausgangsbedingungen deutlich zu gering ist.
Deswegen möchte ich an dieser Stelle mal eine heilige Kuh schlachten und die folgende Lösung ins Spiel bringen: es gibt eine umfangreiche Datenbasis mit jeweils klar definierten Ausgangsparametern, anhand derer die grundsätzliche Funktionalität einer Kernstruktur eines Systems recht gut beurteilt werden kann, und das ist der Wettkampfbetrieb der einschlägigen Kontaktsportarten (Thai-)Boxen, Grappling/BJJ, Judo, Ringen, MMA usw. Der Blick auf die MMA-Szene bietet darüberhinaus den Vorteil, einzelne Lösungsansätze in einem distanzübergreifenden und relativ wenig geregelten Kampfkontext direkt miteinander vergleichen zu können.
Nun wird vermutlich der eine oder andere Vertreter irgendeines „reality-based street-fighting“-Systems einwerfen, daß man das nun schlechterdings vergleichen könne, weil im Sport ja alle gefährlichen und somit brauchbaren Techniken verboten seien. Dieses Argument ist in meinen Augen allerdings aus mehreren Gründen nicht valide.
Erstens sagt mir die Erfahrung eines halben Lebens in einer Vielzahl von unterschiedlichen Trainingssystemen, daß der entscheidende Faktor eben nicht Einzeltechniken sind, sondern das Gesamtpaket, nämlich das Beherrschen einer funktionalen Kernstruktur und das Vorhandensein der aus regelmäßigem Sparring resultierenden Attribute wie Distanzgefühl, Timing, Reaktionsschnelligkeit, Streßresistenz und situativer Urteilsfähigkeit.
Zweitens gilt in einer ordentlichen Diskussionskultur der Grundsatz „Wer behauptet, muß beweisen“. Sportlich geprägte Systeme beweisen die grundsätzliche Funktionalität ihrer Kernstruktur seit Anbeginn der Zivilisation dadurch, daß ihre Vertreter sich regelmäßig vor den Augen aller Zuschauer mit meßbarem Erfolg in freie Auseinandersetzungen begeben. Grundsätzlich stehen derartige Wettkämpfe jedem offen. Es ist also für jedes dezidiert nichtsportliche System ohne weiteres möglich, unter zeitweiligem Verzicht auf die sportlich nicht zugelassenen Techniken die Qualitäten seiner Kernstruktur praktisch im Wettkampfgeschehen zu belegen. Der Leistungssport (insbesondere im Profibereich) ist ein erbarmungsloses Labor, das jegliche nichtfunktionalen Konzepte gnadenlos eliminiert, und im andauernden Kampf um Plazierungen, Preise und Sponsorengelder wird jeder kleinste Vorteil umgehend ausgenutzt. Wenn es in unserer Informationsgesellschaft grundsätzlich anders geartete Verfahren gäbe, die zur Überwältigung eines Gegners im Standup, Clinch oder Bodenkampf meßbare Vorteile böten, würden sie über kurz oder lang Eingang in das wettkampfsportliche Repertoire finden.
Wenn die Antwort darauf allerdings lautet, daß das nicht geht, weil die betreffende Kernstruktur von Techniken oder taktischen Konzepten abhängig ist, die zu gefährlich für den sportlichen Zweikampf sind, muß man daraus jedoch schließen, daß das System als solches insgesamt fragwürdig ist; schon deswegen, weil dann auch kein sicheres Sparring möglich ist (was unbestrittene Grundvoraussetzung für Funktionalität ist).
Drittens stelle ich es mal der Vorstellungskraft des Lesers anheim, wie „ungefährlich“ ein guter Haken eines Boxers, ein ordentlich gemachter Ringertakedown oder ein Hebel oder Würger aus den sportlichen Bodenkampfstilen ist, wenn der kompetente Anwender das nicht möchte.
Heißt das jetzt, daß alle nichtsportlichen Systeme nichts taugen? Beileibe nicht, und ich möchte weiß Gott niemandem sein Trainingssystem madig machen. Aber ein System, das seine grundsätzlichen Verfahrensweisen nicht auf der Matte, im Ring oder im Oktagon der öffentlichen Prüfung stellt, hat letztendlich keine überzeugende Möglichkeit, seine Qualitäten empirisch unter Beweis zu stellen. Und wer vor der Wahl steht, einen erheblichen Aufwand, Zeitansatz und Geldwert zur persönlichen Weiterentwicklung in ein bestimmtes Trainingssystem zu stecken, tut meiner Ansicht nach gut daran, etwas zu wählen, das transparent und überprüfbar ist.
Müssen wir nun alle orthodoxen Wettkampfsport betreiben? Nein, und darauf möchte ich auch gar nicht hinaus. Mein argumentativer Ansatz ist, daß wettkampfgeprägte Zweikampfsportarten in der Summe die beste Möglichkeit bieten, um herauszufinden, welche grundsätzlichen Lösungsansätze in zwischenmenschlichen physischen Konflikten in den verschiedenen Kampfdistanzen am besten funktionieren. Das bietet uns die Möglichkeit, unsere persönliche Trainingsgestaltung bzw. die Wahl unserer Trainingsmöglichkeit an diesen Erkenntnissen auszurichten, indem wir darauf achten, daß unser einsatzorientiertes System z.B. für den Bereich der Schlagdistanz eine starke technisch-methodische boxerische Basis hat, während an diese funktionale Kernstruktur bei Bedarf weitere Inhalte angekoppelt werden können (wie z.B. mehrere Gegner, „dirty boxing“ aus dem Clinch usw.) Gleiches gilt natürlich analog für alle weiteren Distanzen und Konfliktformen.
Weiterhin tun wir gut daran, die aus den sportlichen Systemen entnommene Progression „Technikvermittlung -> Drill mit zunehmendem Freiheitsgrad und Widerstand -> freies Sparring“ zu berücksichtigen. Techniken und Konzepte müssen sich daran messen lassen, wie gut sie sich in einer Vielzahl von freien Auseinandersetzungen bewähren. Und wenn eine Kernstruktur unterrichtet wird, deren Inhalte sich in den Sparringsrunden auch bei fortgeschrittenen Anwendern nicht oder nur teilweise wiederfinden, sollten diese Inhalte kritisch betrachtet und in Frage gestellt werden.
Eine Schwierigkeit liegt zumindest für Anfänger natürlich darin, zu erkennen, ob ein System tatsächlich ernstzunehmende boxerische (um mal eben bei diesem Einzelbeispiel zu bleiben) Konzepte vermittelt oder ob nur wahllos auf einer Pratze herumgeschlagen wird. Ich würde allein schon aus diesem Grund jedem Einsteiger empfehlen, sich tatsächlich zumindest mal für einige Zeit in einem guten Wettkampfgym herumzutreiben. Nicht zwingend, um selber im Wettkampf in den Ring zu steigen (Leistungssport ist immer eine knallharte Knochenarbeit, dazu war ich selber auch zu bequem), aber um regelmäßig mit guten Sparringspartnern zu trainieren und ein Gefühl dafür zu bekommen, was methodisch/sportwissenschaftlich gut ist und was nicht. Die Lektionen, die in einer solchen strikt leistungsorientierten Atmosphäre gelernt werden, sind regelmäßig Gold wert.
Und erst hier kommen wir letztendlich an den Punkt, wo die Frage des eingangs genannten taktischen Kontexts (privater Selbstschutz, behördlicher Einsatz usw.) eine Rolle spielen. Hier kommt es im Grunde darauf an, die eigenen taktischen Anforderungen realistisch einzuordnen und sich in denjenigen Sportarten umzuschauen, deren Regelwerk und taktischer Schwerpunkt die größte Überlappung mit unserer Anwendung aufweist, und ggf. weitere zusätzlich benötigte Inhalte aus anderen Quellen einzubeziehen. Für polizeiliches Einsatztraining bietet sich eine distanzübergreifende MMA-ähnliche Kernstruktur mit deutlich ringerischem Schwerpunkt an, die im zweiten Schritt um Einsatzmittel, Waffenschutz und Teamarbeit erweitert wird.
So, nun ist die heilige Kuh geschlachtet, filetiert und liegt auf dem Grill. Macht euch selber 'nen Kopp drüber
