So, nun bin ich wieder da und hab mal ein paar Minuten Luft. Ich denke, ich muß deinen letzten Beitrag nicht weiter zerpflücken, oder?
Wir verbuchen das mal als kleinen Scherz.
Was ist denn Szenariotraining? In aller Regel eine künstlich gestaltete Situation, in der der/die Rollenspieler ein mehr oder minder festgelegtes Drehbuch absolvieren, während der Teilnehmer darauf reagieren soll. Auf Deutsch gesagt, ein Impro-Theaterstück.
Wenn man das auf diese Art und Weise betreibt, erschöpft sich der positive Effekt mehr oder weniger darin, daß der Teilnehmer sich hinterher gut fühlt, weil er was gemacht hat, das total "tactical" ist. Er wird dadurch aber keinen fixeren Punch, bessere Takedownverteidigung, stabilere Deckung oder verbessertes Timing haben. Und (hierbei muß ich dem Kanadier recht geben) das ist dasjenige, was zuerst da sein muß und gerade bei vielen Kollegen mangels entsprechendem Training nicht da ist - die grundlegende kämpferische Mechanik.
Tatsächlich wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Es ist vollkommen zutreffend, daß eine Realsituation zumindest dahingehend höhere Anforderungen an den Betroffenen stellt als ein sportlicher Zweikampf, daß sie unwägbarer ist. Daraus folgt aber, daß derjenige, der nicht mal imstande ist, mit einem einzigen Gegner in einer symmetrischen Situation unter einem Regelwerk klarzukommen, im Realeinsatz erst recht untergehen wird.
Das mag aber auch damit zusammenhängen, dass die Trainer meistens im gewerblichen/behördlichen Bereich mit der Materie zutun hatten; also Security, PersSchtz, JVA-/Polizeibeamte mit jahrelanger Erfahrung.
Das bürgt noch lange nicht dafür, daß das, was sie erzählen, sinnvoll ist - eben weil die Anzahl der Vorfälle insgesamt doch eher begrenzt ist und die Betreffenden schnell dazu neigen, von einzelnen Episoden auf die Allgemeinheit zu generalisieren. Wenn du wüßtest, was für katastrophalen Schwachsinn ich diesbezüglich schon im Kollegenkreis von langjährig erfahrenen Schutzleuten gehört habe, würden dir die Haare zu Berge stehen. Ich bin mittlerweile so weit, daß ich sage, Dienst- und Einsatzerfahrung ist gut, aber lange kein Ersatz für kritisches Denken, Experimentierfreude und die Fähigkeit, konzeptionell zu arbeiten.
Nach 3 Jahren BJJ war ich drauf konditioniert, schnellstmöglich die Distanz zum Gegner zu überbrücken und in den Clinch zu gehen. Ist sowas bei einer Gruppe von potentiellen Gegnern ratsam?
Nach drei Jahren Treckerfahren bin ich ziemlich gut darin geworden, mit der Egge auch die letzte Ecke vor dem Feldrain zu erwischen. Ist so ein Gefährt sinnvoll, wenn ich vor der Disse vorfahren und ein leicht zu beeindruckendes Blondchen klarmachen will?
Mensch Kensei... du weißt dasselbe wie ich, du stellst bloß die falschen Fragen! Natürlich ist es Blödsinn, im Angesicht von mehreren Gegnern den Clinch/Boden zu suchen. Es geht nicht darum, einzelne Systeme zu verteufeln oder in den Himmel zu loben, sondern die passenden Einsatzgebiete für einzelne Skillkomponenten zu identifizieren (und das ist im Grunde eine Binsenweisheit). Wenn du auf einmal doch auf dem Boden landest, wirst du über dein BJJ dankbar sein. Wenn jemand dich werfen will, wirst du über Ringen/Judo dankbar sein. Wenn du auf den Beinen und mobil bleiben willst, mußt du vernünftig boxen können. Usw. usf.
Die nötigen robusten und funktionalen Fähigkeiten entwickelst du aber am besten dort, wo strikt performanceorientiert trainiert wird. Und das sind (nicht ausschließlich, aber ganz überwiegend) die Sportsysteme. Ein Punch ist grundsätzlich erstmal ein Punch, egal ob du den auf der Matte, im Ring oder um 00:30 h im Nachtdienst an den Mann bringen mußt. Und solange jemand nicht ordentlich hauen, clinchen, werfen und grapplen kann, bringt es denjenigen auch nicht wirklich nach vorne, daß er sein Impro-Theater ausnahmsweise mal nicht im Dojo, sondern in einer angemieteten Disco absolviert hat.
Ich bin zu dieser Einsicht gekommen, weil ich irgendwann meinen Trainingserfolg mal quantifizieren wollte, und zwar nicht anhand von erworbenen Gürteln oder gelernten Flowdrills. Damals habe ich in einem Dojo einer recht traditionellen Stilrichtung trainiert, die ich hier mal nicht nennen werde, um niemandem auf die Füße zu treten (ist im Prinzip auch egal). Da hieß es dann auch häufig, "Heute trainieren wir mal draußen auf dem Parkplatz, heute trainieren wir mal nachts in einer unbeleuchteten Halle, heute trainieren wir mal dieser und jener Überraschung usw."
Zufällig bin ich dann mal beim Judo gelandet, war fasziniert von der zielgerichteten Leistungsorientierung und dem ständigen Randori und hab dort dauerhaft mitgemacht. Und was passierte? Nach etlichen Monaten habe ich in meinem alten Dojo im Sparring mit den allermeisten meiner alten Trainingskumpels die Matte aufgewischt. Nicht weil ich so ein krasser Hauer gewesen wäre, sondern weil ich auf einmal daran gewöhnt war, ständig gegen echten (kompetenten) Widerstand um den tatsächlichen Sieg zu kämpfen.
Irgendwann nach ein paar Jahren habe ich mich dann auch da wieder verabschiedet und bin weitergezogen... aber seitdem bin ich für die herkömmlichen SV-Kopfgeburten verdorben. In letzter Konsequenz zählt nur Performance unter Druck, und die ist mit sportwissenschaftlichen Methoden objektiv meß- und entwickelbar. Alles andere ist Selbstbetrug.
Ich möchte in diesem Zusammenhang mal ein paar Texte von jemandem verlinken, der das besser ausgedrückt hat als ich das je könnte...
http://www.straightblastgym.com/aliveness101.html
http://www.straightblastgym.com/street03.htm
Ist eine Menge Holz, aber sehr lesenswert.