Funktionalität von Trainingssystemen

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Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Trooper » Sa 7. Dez 2013, 12:04

In dieser Sektion tauchen regelmäßig Fragen auf, die auf die Vor- und Nachteile einzelner Trainingssysteme für individuellen Selbstschutz, für die verschiedenen Aspekte polizeilichen Einsatzverhaltens oder für die einzelpersonenübergreifende Verwendung als behördliche Ausbildungsmethodik abzielen. Ähnliche Fragen bekomme ich im Leben abseits des Bildschirms ebenso regelmäßig von einigen unserer Anwärter, die sich gerne über den Rahmen des dienstlich gebotenen Programms fortbilden wollen, im Rahmen des dienstlichen AZT-Trainings gestellt.

Hier im Forum werden diese Fragen meistens entweder mit dem lakonischen, mehr oder weniger nichtssagenden Verweis „Im Bundesland XY wird Z ausgebildet“ beantwortet oder der Fragende mit einer Vielzahl von wenig transparenten Einzelempfehlungen nach dem Muster „Mach ABC, das hat für mich immer am besten funktioniert/wird vom SEK Dingenskirchen trainiert/ist im usbekischen Antiterrorkrieg entwickelt worden“ bombardiert.

Ich möchte in diesem Beitrag den Versuch unternehmen, einmal schrittweise, schlüssig und objektiv begründet zu entwickeln, was in meinen Augen ein sinnvolles Trainingskonzept ausmacht. Ich hoffe damit, einige der wiederkehrenden Fragen zu beantworten und den einen oder anderen Denkanstoß liefern zu können.

Dabei ist es prinzipiell erstmal unerheblich, ob meine Zielrichtung privater Selbstschutz, polizeiliche Eigensicherung oder Festnahme/Kontrolle ist, denn im Zentrum meiner Erwägungen sollte zunächst erstmal spektrumsübergreifende Funktionalität stehen.
Funktionalität ergibt sich meiner Erfahrung nach nicht aus dem Vorhandensein von ganz bestimmten, möglichst verletzungsträchtigen oder möglichst vielen Einzeltechniken, sondern vielmehr aus zwei Grundkomponenten, von denen eine system- und die andere personenabhängig ist.

Die systemabhängige Komponente ist das, was im englischsprachigen Raum als „delivery system“ bezeichnet wird. Die am nächsten kommende deutsche Entsprechung könnte wohl am ehesten etwas wie „Kernstruktur des Systems“ sein. Gemeint ist damit die systemtypische essentielle Grundmotorik, bestehend aus Körperhaltung/Distanzverhalten, den das System prägenden typischen Grundtechniken und der grundlegenden Trainingsmethodik. Am Beispiel Boxen wäre das z.B. die boxerische Grundhaltung mit Doppeldeckung, die Grundtechniken Gerade/Haken/Uppercut und die Trainingsmethodiken Pratze/Sandsack/Sparring. Diese Kernstruktur muß in sich schlüssig und erfolgversprechend sein.

Eine funktionierende Kernstruktur erlaubt es dem Anwender, der sie beherrscht, mit relativer Leichtigkeit andere Techniken, die in den entsprechenden taktischen Kontext passen, binnen kurzer Zeit in sein Repertoire zu integrieren. Jemand, der die boxerische Kernstruktur korrekt gelernt und verinnerlicht hat, kann z.B. relativ einfach mit überschaubarem Trainingsaufwand verschiedene andere Schlagtechniken wie Ellenbogen, Handballenstöße usw. zur Anwendungsreife bringen, weil er die motorischen und taktischen Grundlagen dafür bereits hat. Die Kernstruktur ist also das bestimmende zentrale Element im Trainings- und Kampfverhalten des einzelnen Anwenders, an das zusätzliche Inhalte nach Bedarf „angedockt“ werden können. Schlußendlich entscheidet sie in erster Linie über den praktischen Nutzwert der trainierten Inhalte.

Mit der personenabhängige Komponente ist gemeint, daß jegliches Trainingssystem und jegliche Einzeltechnik nur dann etwas taugt, wenn der Anwender nach dem Erlernen einer Technik die Zeit und Mühe investiert, sie zur Anwendungsreife zu bringen. Die tatsächliche Anwendung in einer unabgesprochenen freien Auseinandersetzung mit einem sich ernsthaft wehrenden Gegner, der ebenfalls in Siegesabsicht handelt, erfordert mehr und andere Fähigkeiten als das bloße Reproduzieren von Techniken in einer vorgegebenen Sequenz mit einem kooperativen Trainingspartner (selbst wenn dieser einen vom Drehbuch vorgegebenen Widerstandsgrad aufbringt). Gelernt werden kann sowas nur durch tatsächliches freies Kämpfen (vulgo Sparring/Randori) in erheblichem Umfang.

Daraus ergibt sich gerade für einen so vielfältigen Bereich wie polizeiliche Zwangsmaßnahmen, daß es nicht damit getan ist, ein paar voneinander isolierte Techniken für Einzelsituationen zusammenzustellen. Ich treffe regelmäßig AZT-Trainer (meistens solche, die keinen kampfsportlichen Background haben), die im Grunde eine Art mentalen Baukasten verwenden... ein Modul Blutprobenentnahme, ein Modul Festnahmetechniken, ein Modul Durchsuchung usw. So etwas wird immer unzusammenhängendes Stückwerk bleiben. Auch (bzw. gerade) im behördlichen Training muß im Zentrum eine Kernstruktur, ein „delivery system“ stehen, das keine technischen Einzellösungen und isolierten Kniffe, sondern situations- und distanzübergreifende Kampfkompetenz „aus einem Guß“ zur Überwältigung eines sich wehrenden Gegners vermittelt. An diese Kernstruktur können dann Spezialthemen wie die o.g. Inhalte angekoppelt werden.

Aus den obigen Erwägungen folgt natürlich die Frage, anhand von welchen Kriterien beurteilt werden kann, ob eine bestimmte Kernstruktur wirklich gut funktioniert. Aus Gründen der Vergleichbarkeit halte ich eine anekdotische Beweisführung anhand der Echteinsatzergebnisse von Einzelpersonen oder Einheiten nicht für eine saubere Lösung, weil es sich erstens dabei immer um unterschiedliche Situationen und Sachverhalte handelt und zweitens deswegen die Häufigkeit von zumindest einigermaßen vergleichbaren Ausgangsbedingungen deutlich zu gering ist.

Deswegen möchte ich an dieser Stelle mal eine heilige Kuh schlachten und die folgende Lösung ins Spiel bringen: es gibt eine umfangreiche Datenbasis mit jeweils klar definierten Ausgangsparametern, anhand derer die grundsätzliche Funktionalität einer Kernstruktur eines Systems recht gut beurteilt werden kann, und das ist der Wettkampfbetrieb der einschlägigen Kontaktsportarten (Thai-)Boxen, Grappling/BJJ, Judo, Ringen, MMA usw. Der Blick auf die MMA-Szene bietet darüberhinaus den Vorteil, einzelne Lösungsansätze in einem distanzübergreifenden und relativ wenig geregelten Kampfkontext direkt miteinander vergleichen zu können.

Nun wird vermutlich der eine oder andere Vertreter irgendeines „reality-based street-fighting“-Systems einwerfen, daß man das nun schlechterdings vergleichen könne, weil im Sport ja alle gefährlichen und somit brauchbaren Techniken verboten seien. Dieses Argument ist in meinen Augen allerdings aus mehreren Gründen nicht valide.

Erstens sagt mir die Erfahrung eines halben Lebens in einer Vielzahl von unterschiedlichen Trainingssystemen, daß der entscheidende Faktor eben nicht Einzeltechniken sind, sondern das Gesamtpaket, nämlich das Beherrschen einer funktionalen Kernstruktur und das Vorhandensein der aus regelmäßigem Sparring resultierenden Attribute wie Distanzgefühl, Timing, Reaktionsschnelligkeit, Streßresistenz und situativer Urteilsfähigkeit.

Zweitens gilt in einer ordentlichen Diskussionskultur der Grundsatz „Wer behauptet, muß beweisen“. Sportlich geprägte Systeme beweisen die grundsätzliche Funktionalität ihrer Kernstruktur seit Anbeginn der Zivilisation dadurch, daß ihre Vertreter sich regelmäßig vor den Augen aller Zuschauer mit meßbarem Erfolg in freie Auseinandersetzungen begeben. Grundsätzlich stehen derartige Wettkämpfe jedem offen. Es ist also für jedes dezidiert nichtsportliche System ohne weiteres möglich, unter zeitweiligem Verzicht auf die sportlich nicht zugelassenen Techniken die Qualitäten seiner Kernstruktur praktisch im Wettkampfgeschehen zu belegen. Der Leistungssport (insbesondere im Profibereich) ist ein erbarmungsloses Labor, das jegliche nichtfunktionalen Konzepte gnadenlos eliminiert, und im andauernden Kampf um Plazierungen, Preise und Sponsorengelder wird jeder kleinste Vorteil umgehend ausgenutzt. Wenn es in unserer Informationsgesellschaft grundsätzlich anders geartete Verfahren gäbe, die zur Überwältigung eines Gegners im Standup, Clinch oder Bodenkampf meßbare Vorteile böten, würden sie über kurz oder lang Eingang in das wettkampfsportliche Repertoire finden.

Wenn die Antwort darauf allerdings lautet, daß das nicht geht, weil die betreffende Kernstruktur von Techniken oder taktischen Konzepten abhängig ist, die zu gefährlich für den sportlichen Zweikampf sind, muß man daraus jedoch schließen, daß das System als solches insgesamt fragwürdig ist; schon deswegen, weil dann auch kein sicheres Sparring möglich ist (was unbestrittene Grundvoraussetzung für Funktionalität ist).

Drittens stelle ich es mal der Vorstellungskraft des Lesers anheim, wie „ungefährlich“ ein guter Haken eines Boxers, ein ordentlich gemachter Ringertakedown oder ein Hebel oder Würger aus den sportlichen Bodenkampfstilen ist, wenn der kompetente Anwender das nicht möchte.

Heißt das jetzt, daß alle nichtsportlichen Systeme nichts taugen? Beileibe nicht, und ich möchte weiß Gott niemandem sein Trainingssystem madig machen. Aber ein System, das seine grundsätzlichen Verfahrensweisen nicht auf der Matte, im Ring oder im Oktagon der öffentlichen Prüfung stellt, hat letztendlich keine überzeugende Möglichkeit, seine Qualitäten empirisch unter Beweis zu stellen. Und wer vor der Wahl steht, einen erheblichen Aufwand, Zeitansatz und Geldwert zur persönlichen Weiterentwicklung in ein bestimmtes Trainingssystem zu stecken, tut meiner Ansicht nach gut daran, etwas zu wählen, das transparent und überprüfbar ist.

Müssen wir nun alle orthodoxen Wettkampfsport betreiben? Nein, und darauf möchte ich auch gar nicht hinaus. Mein argumentativer Ansatz ist, daß wettkampfgeprägte Zweikampfsportarten in der Summe die beste Möglichkeit bieten, um herauszufinden, welche grundsätzlichen Lösungsansätze in zwischenmenschlichen physischen Konflikten in den verschiedenen Kampfdistanzen am besten funktionieren. Das bietet uns die Möglichkeit, unsere persönliche Trainingsgestaltung bzw. die Wahl unserer Trainingsmöglichkeit an diesen Erkenntnissen auszurichten, indem wir darauf achten, daß unser einsatzorientiertes System z.B. für den Bereich der Schlagdistanz eine starke technisch-methodische boxerische Basis hat, während an diese funktionale Kernstruktur bei Bedarf weitere Inhalte angekoppelt werden können (wie z.B. mehrere Gegner, „dirty boxing“ aus dem Clinch usw.) Gleiches gilt natürlich analog für alle weiteren Distanzen und Konfliktformen.

Weiterhin tun wir gut daran, die aus den sportlichen Systemen entnommene Progression „Technikvermittlung -> Drill mit zunehmendem Freiheitsgrad und Widerstand -> freies Sparring“ zu berücksichtigen. Techniken und Konzepte müssen sich daran messen lassen, wie gut sie sich in einer Vielzahl von freien Auseinandersetzungen bewähren. Und wenn eine Kernstruktur unterrichtet wird, deren Inhalte sich in den Sparringsrunden auch bei fortgeschrittenen Anwendern nicht oder nur teilweise wiederfinden, sollten diese Inhalte kritisch betrachtet und in Frage gestellt werden.

Eine Schwierigkeit liegt zumindest für Anfänger natürlich darin, zu erkennen, ob ein System tatsächlich ernstzunehmende boxerische (um mal eben bei diesem Einzelbeispiel zu bleiben) Konzepte vermittelt oder ob nur wahllos auf einer Pratze herumgeschlagen wird. Ich würde allein schon aus diesem Grund jedem Einsteiger empfehlen, sich tatsächlich zumindest mal für einige Zeit in einem guten Wettkampfgym herumzutreiben. Nicht zwingend, um selber im Wettkampf in den Ring zu steigen (Leistungssport ist immer eine knallharte Knochenarbeit, dazu war ich selber auch zu bequem), aber um regelmäßig mit guten Sparringspartnern zu trainieren und ein Gefühl dafür zu bekommen, was methodisch/sportwissenschaftlich gut ist und was nicht. Die Lektionen, die in einer solchen strikt leistungsorientierten Atmosphäre gelernt werden, sind regelmäßig Gold wert.

Und erst hier kommen wir letztendlich an den Punkt, wo die Frage des eingangs genannten taktischen Kontexts (privater Selbstschutz, behördlicher Einsatz usw.) eine Rolle spielen. Hier kommt es im Grunde darauf an, die eigenen taktischen Anforderungen realistisch einzuordnen und sich in denjenigen Sportarten umzuschauen, deren Regelwerk und taktischer Schwerpunkt die größte Überlappung mit unserer Anwendung aufweist, und ggf. weitere zusätzlich benötigte Inhalte aus anderen Quellen einzubeziehen. Für polizeiliches Einsatztraining bietet sich eine distanzübergreifende MMA-ähnliche Kernstruktur mit deutlich ringerischem Schwerpunkt an, die im zweiten Schritt um Einsatzmittel, Waffenschutz und Teamarbeit erweitert wird.

So, nun ist die heilige Kuh geschlachtet, filetiert und liegt auf dem Grill. Macht euch selber 'nen Kopp drüber ;D
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon hellbert » Sa 7. Dez 2013, 13:36

Als Trainierender einer "nicht-Wttkampf-Kampfkunst" kann ich mich dem Eingangspost durchaus anschließen. Ich würde nur noch gerne auf folgende aspekte Hinweisen:

1) Sympathie mit dem System und den Trainingspartner
Selbst wenn es das beste System für die Polizei geben würde, hätte wohl niemand die Energie das notwendige Training regelmäßig durchzuziehen, wenn er sich nicht mit dem System idnetifizieren könnte und/oder er einfach die Leute dort nicht mag.

2) Übertragbarkeit der Systeme
Auch wenn sie gut für den Wettkampf sind, kann man sie trotzdem nicht immer 1 zu 1 in den polizeilichen Alltag übertragen. Nicht jede körperliche Auseinandersetzung im Dienst ist eine massive Keilerei. Und man kann eben das durchgeknallte 14 jährige Girlie nicht mit einem rechten Hacken im Kaufhaus niederstrecken, wenn sie ein wenig die Nerven verliert.
Hier wäre vielleicht das "Kriterium" einer Art "Stufenfolge" der erlernten "Techniken" sinnvoll.

Nur ein paar kleine Gedanken...

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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Kensei » Sa 7. Dez 2013, 15:04

Ich stimme mit vielen der genannten Punkte überein Trooper, nur einige Anmerkungen;

Dein Argument mit der "Kernstruktur" erscheint mir noch zu "technisch". MMn ist ein wesentlicher Aspekt im Zweikampf die Athletik, wozu ich Attribute wie Nehmerqualitäten, (Kraft-)Ausdauer, Beweglichkeit oder auch Reflexe zählen würde. Da wären wir dann wieder bei dem Punkt Wettkampfsport vs. Kampfkunst, wobei beim KS eben häufig mehr Wert auf Athletik, bei der KK eher Wert auf Ästhetik gelegt wird. Danach kommt die psychische Komponente, d.h. bin ich mental auch bereit körperliche Gewalt auszuüben und einem anderen Schaden zuzufügen. An dritter Stelle sehe ich dann bestimmte Prinzipien des Kampfverhaltens, und erst danach spielen konkrete Techniken eine Rolle.

Zur Kritik sportlicher Wettkampf vs. regelloses Sparring; Ich habe als Kampfsportler selber die Erfahrung gemacht, dass man im reglementierten Zweikampf in der Tat beginnt den Schutz bestimmter lethaler Körperzonen zu vernachlässigen, bspw. eben Genitalbereich oder frontale Tritte gegen die Knie/Schienbeine. Selbst MMA-Wettkampfsysteme reglementieren ja derart und verbieten u.a. auch Kopfstöße. In wirklich freiem Sparring, leichtkontakt mit Schutzausrüstung ohne Regeln, habe ich das schmerzhaft zu spüren bekommen. Man kann sich dann zwar schnell umstellen, nur im Ernstfall ises das halt gewesen, wenn dir einer die Kniescheibe zerschiesst oder du mit 'nem Genitaltreffer zu Boden gehst. Sportlicher Zweikampf ist richtig und wichtig, unreglementiertes Kämpfen kann ich aber auch nur durch Trainingskämpfe (fast) ohne Regeln simulieren. Trainiere ich nur nach einem bestimmten Regelwerk, schleife ich meine Kampfweise zwangsläufig darauf ein.

Dabei wären wir auch beim dritten Kritikpunkt; Sparring machen kann ich auch in "reinen" SV-Systemen, nicht nur im Kampfsport. Das Problem ist oftmals nicht, dass es nicht gehen würde, sondern das es nicht gemacht wird, weil zu unästhetisch, zu anstrengend, nicht breitensportgerecht oder was weiß ich. Möglich ist ein regelmäßiges Randori auch in Kampfkünsten oder SV-orientierten Systemen, nur es gibt die Anreize eben nicht, da keine Urkunden, Medaillen o.ä. winken wie im Wettkampf.

Zu guter letzt, wie hellbert schon schrieb, nützt es alles nix, wenn nicht regelmäßig trainiert wird. D.h. Verein, Trainer, Trainingspartner, Trainingszeiten etc. müssen passen, damit ich als Einzelner bewogen werde, minimum 2x die Woche meine vier Buchstaben dort hinzuschleifen und was zu machen. Mal ein einzelner Lehrgang hier und da bringt garnichts, wenn ich das gelernte nicht einschleife. Da ist dann auch wieder die Behörde gefragt, wieviel Training bspw. im Rahmen des Dienstsports überhaupt zur Verfügung gestellt wird.
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Trooper » Sa 7. Dez 2013, 17:27

Dein Argument mit der "Kernstruktur" erscheint mir noch zu "technisch".
Es ist dahingehend nicht zu technisch, weil es (wenn man es zu Ende denkt) eben auch Dinge wie körperliche und mentale Konditionierung beinhaltet. Ich verstehe unter der Kernstruktur eben auch kennzeichnende Trainingsmethoden, und die sehen in sportlastigen Systemen in aller Regel ein regelmäßiges, ziemlich hartes Kraftausdauertraining vor - eben weil körperliche Attribute eine erhebliche Rolle spielen.
Zur Kritik sportlicher Wettkampf vs. regelloses Sparring; Ich habe als Kampfsportler selber die Erfahrung gemacht, dass man im reglementierten Zweikampf in der Tat beginnt den Schutz bestimmter lethaler Körperzonen zu vernachlässigen, bspw. eben Genitalbereich oder frontale Tritte gegen die Knie/Schienbeine.
Ich kritisiere nicht regelloses Sparring, sondern die Abwesenheit von Sparring :) Natürlich kann man im Sparring die Regeln modifizieren und ggf. Dinge tun, die nach Wettkampfregeln hundepfui wären. Man muß dazu allerdings sehr kompetente Sparringspartner haben (und selber entsprechende Fähigkeiten besitzen), und vor allem kann man dann eben doch nicht mit voller Geschwindigkeit und Intention einsteigen.

Andererseits sind viele "verbotene" Techniken nur geringfügig anders als ihre erlaubten Pendants und der Sprung vom Lowkick zu verbotenen Tieftritten oder vom Jab zum Fingerstich ins Auge ist dann doch nicht so groß, daß er nicht zu schaffen wäre. Ich denke, daß die Bedeutung dieses Faktors überschätzt (und die Bedeutung von jahrelangem leistungssportlichen Sparring nach Regeln von vielen Leuten unterschätzt) wird.

Letztlich ist Sparring immer ein Kompromiß zwischen Wirklichkeitsnähe und Verletzungsrisiko, und ich würde mich im Zweifelsfall eher für volle Geschwindigkeit als für volle Trefferzone entscheiden. Im Grunde ist diese Debatte aber auch schon vor einem Jahrhundert von Jigoro Kano in beeindruckender Weise beendet worden ;D
Dabei wären wir auch beim dritten Kritikpunkt; Sparring machen kann ich auch in "reinen" SV-Systemen, nicht nur im Kampfsport. Das Problem ist oftmals nicht, dass es nicht gehen würde, sondern das es nicht gemacht wird, weil zu unästhetisch, zu anstrengend, nicht breitensportgerecht oder was weiß ich. Möglich ist ein regelmäßiges Randori auch in Kampfkünsten oder SV-orientierten Systemen, nur es gibt die Anreize eben nicht, da keine Urkunden, Medaillen o.ä. winken wie im Wettkampf.
Klar kann man das. Die Wahrscheinlichkeit, gute Sparringspartner und einen guten Trainer zu finden, der dich im Sparring sinnvoll coachen kann, ist aber in einer leistungsorientierten Umgebung ungleich höher. Ich habs in SV-lastigen Schulen auch schon erlebt, aber diese Gegenbeispiele waren allesamt früher mal Leistungssportler mit beträchtlichen Erfolgsbilanzen gewesen. Es hat auch ein bißchen was mit der im Gym herrschenden Trainingskultur zu tun. Eine sportlich-athletische Atmosphäre, in der zielorientiertes Sparring zum Trainingsalltag gehört und Leistungen gemessen werden, erzieht diesbezüglich zur Zielstrebigkeit.

Ich wills mal so ausdrücken. Ich habe mal dienstlich bei jemandem trainiert, der aus der SV-Schiene kam. Da gab es immer Kreistraining... einer war Schweinchen in der Mitte und wurde reihum überraschend angegriffen. Der abgewehrte Angreifer trat wieder in die Runde und das ging so weiter, bis die Zeit um war. Das war ganz schweißtreibend. Gleichzeitig trainierte ich privat in einem recht guten Grappling- und MMA-Gym. Da gabs auch Kreistraining... zwei gingen in die Mitte und kämpften, bis einer den ersten Takedown verbucht hatte, während der Kreis coachte. Der Verlierer mußte wieder raus, der Gewinner blieb drin, bis er irgendwann zum Verlierer wurde.

Du kannst dir vorstellen, was letztlich körperlich anstrengender, taktisch fordernder und mental belastender war. Es ist ein frappierender Unterschied, ob da ein "Angreiferdarsteller" oder ein Gegner mit Siegeswillen im Auge den Kreis betritt. Auch wenn man sich noch so sehr vornimmt, kernig anzugreifen, letztendlich ist ersteres doch nur ein Rollenspiel, und das wirkt sich unterbewußt aus.

Ich habe die zweite Variante übrigens neulich mal in unser dienstliches Training eingebaut. Und es kam, wie es kommen mußte: von den schönen polizeilichen Festnahmetechniken aus dem "Roten Faden AZT" blieb fast nix übrig, dafür sah man eine Menge Ausheber, Double- und Single-Leg-Takedowns, die eine oder andere Außen- und Innensichel und etliche mehr oder minder gelungene Hüft-, Körper und Schleuderwürfe. Und das, obwohl wir den Kram mit unseren Anwärtern praktisch nie geübt hatten.
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Kensei » Sa 7. Dez 2013, 17:59

Ich stimme dir in vielen Teilen zu Trooper, es gibt dennoch einige Gebiete in puncto Selbstverteidigung, die ich im "sportlichen" Training nur schwerlich verwirklichen kann.
Spätestens wenn z.B. Waffen in's Spiel kommen, sind wir in einem Bereich, der von Sportvereinen kaum adäquat bedient wird. Ähnliches gilt für "Mass-Attack"-Szenarien, "Low-Light-Training" etc.
Dazu mal ein älteres Video aus dem FMA-Bereich;

http://www.youtube.com/watch?v=8_GVOpGs5ZI
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Trooper » Sa 7. Dez 2013, 18:05

1) Sympathie mit dem System und den Trainingspartner
Selbst wenn es das beste System für die Polizei geben würde, hätte wohl niemand die Energie das notwendige Training regelmäßig durchzuziehen, wenn er sich nicht mit dem System idnetifizieren könnte und/oder er einfach die Leute dort nicht mag.
Stimmt und stimmt nicht. Trainer und Trainingspartner müssen passen. Ich habe aber auch schon Sachen trainiert, die ich damals total cool fand... und sie dann doch sofort aufgegeben, als ich feststellte, daß sie im Vergleich zu anderen Ansätzen nicht das hielten, was sie versprachen. Ich identifiziere mich nicht mit einem System, sondern mit einem Resultat.
2) Übertragbarkeit der Systeme
Auch wenn sie gut für den Wettkampf sind, kann man sie trotzdem nicht immer 1 zu 1 in den polizeilichen Alltag übertragen. Nicht jede körperliche Auseinandersetzung im Dienst ist eine massive Keilerei.
... und nicht jeder Zweikampfsport besteht nur aus Hauen :-)
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Trooper » Sa 7. Dez 2013, 18:10

Ich stimme dir in vielen Teilen zu Trooper, es gibt dennoch einige Gebiete in puncto Selbstverteidigung, die ich im "sportlichen" Training nur schwerlich verwirklichen kann.
Stimmt, aber deswegen schrob ich ja, daß man bestimmte Spezialgebiete an ein funktionierendes "delivery system" dranhängen kann. Es ist einfacher, jemandem zu nehmen, der schon über ausgeprägte Kampffähigkeiten verfügt, und ihm dann Einsatztaktik beizubiegen, als jemandem von der Pike auf Kämpfen beizubringen, der bisher nur taktische Sandkastenspielchen gemacht hat.

Und die sportliche/leistungsbezogene Trainingsmethodik kann man aus dem sportlichen Bereich durchaus in andere Themenfelder mitnehmen. Mal ganz davon abgesehen, daß es auch (gerade in den FMA) sehr sportliche und sparringslastige Waffenstile gibt.
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Kensei » Sa 7. Dez 2013, 18:24

Das ist dann aber eine Frage von Zeit und Ressourcen Trooper.
Anders gesagt, warum soll ich jemanden der SV lernen will, erstmal fünf Jahre lang Leistungssport betreiben lassen :polizei13:

Und die Wettkampfsysteme empfinde ich in den FMA nicht unbedingt als Bereicherung. Sparring ist dagegen unabdingbar, auch im Waffenkampf.
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon fmullins » Sa 7. Dez 2013, 18:25

Kensei hat geschrieben: Spätestens wenn z.B. Waffen in's Spiel kommen, sind wir in einem Bereich, der von Sportvereinen kaum adäquat bedient wird. Ähnliches gilt für "Mass-Attack"-Szenarien, "Low-Light-Training" etc.
Ein Punkt der in meinen Augen häufig überbewertet wird.
Verstehe mich nicht falsch, durchaus berechtigter Einwand. Solche "Sondermodule" sollten sicherlich zum kompletten Training im Vollzugsbereich dazugehören.
Allerdings werden die meisten Kollegen bei Widerständen/Angriffen verletzt die im simplen Bereich Boxen/Ringen/Boden stattfinden.
Basis-Zweikampfszenarien die mit einer geringen Basisfertigkeit in genau diesen drei Bereichen verletzungsfrei hätten bewältigt werden können.

Nur wenn diese Basis vorhanden ist lohnen sich "Sondermodule".
Ich spreche das an, weil Kollegen häufig der Meinung sind teure tacticool "Sondermodule" und Lehrgänge machen das Training aus.
Bringt ja auch mehr Laune im Low-Light Bereich rumzuspielen als mal konsequent ein halbes Jahr zweimal die Woche zum Boxtraining zu gehen. :boxen: ;D

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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon powle » Sa 7. Dez 2013, 18:30

es geht nichts über eine klene Hauerei auf der Straße :versteck:

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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon fmullins » Sa 7. Dez 2013, 18:32

Meine Empfehlung an Kollegen die sich im Zweikampfbereich verbessern wollen:
Einfach mal ein halbes Jahr einen Schwerpunkt setzen. Zweimal die Woche Boxen/Thaiboxen o.ä. reicht über diesen Zeitraum aus um eine Basisfertigkeit zu erlangen. Man wird kein guter Boxer, aber sticht aus dem "Kollegenniveau" deutlich heraus.
Dazu nochmal MMA/Ringen/Grappling/Judo für Takedown und Boden und man ist dienstlich gesehen auf einem guten Level.
Ein halbes Jahr geht schnell rum. Anstatt Fussball/Laufen/Kraftsport etc. einfach mal den Fokus auf das Kämpfen gelegt und man hat sein "Dienstleben" lang etwas davon. :zustimm:

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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Kensei » Sa 7. Dez 2013, 18:33

Ist wie gesagt für mich eine Frage von Zeit und Ressourcen. Und natürlich davon, was ich will und worauf ich mich vorbereiten will.
Wenn ich potentiell mit bewaffneten Widerständler rechnen muss, dann geh ich die 2x die Woche ins FMA-Training, nicht in's Boxen :)

@fmullins
Kann ich so nicht bestätigen. Hans Dampf in allen Gassen und nicht's richtig. Das ist eher meine Erfahrung mit solchen Leuten :polizei2:

Es geht bei realistischer SV nicht darum, alles ein bisschen zu können, sondern in einer Sache richtig gut zu sein, und meinem Gegenüber "mein Spiel" aufzuzwingen...
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon fmullins » Sa 7. Dez 2013, 18:50

Die polizeilichen Aufgabenbereiche decken alle Distanzen ab. Eine Festnahme mit Widerstand geht häufig über mehrere Distanzen.

Stand-up Hauerei mit der Kundschaft oder sperren gegen Maßnahmen im Stand.
Bei gewünschter Festnahme muss ich zwangsläufig irgendwann in den Clinch/Takedown gehen und lande immer auch am Boden, wo ich letztlich für Sicherheit sorge indem ich die 8 anlege.
Darum meine Empfehlung sich in allen Bereichen zumindest soweit zu trainieren, dass man sich nicht völlig unwohl fühlt.
Kensei hat geschrieben:Es geht bei realistischer SV nicht darum, alles ein bisschen zu können,
Für private/realistische Selbstverteidigung stimme ich deiner Aussage mit Einschränkungen zu. Hier würde man Clinch und Boden natürlich meiden und kann den Trainingsschwerpunkt anders legen.
Bin auch u.a. FMA`ler :polizei2:

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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Kensei » Sa 7. Dez 2013, 19:24

Ok, wenn wir konkret von Polizei reden hast du sicher recht.

Anfängern würde ich trotzdem generell raten erstmal eine Sache länger zu trainieren statt "alles ein bisschen". Meine Erfahrung ist die, dass Neulinge mit MMA am anfang eher überfordert sind. Schnellere Erfolge erziele ich, wenn ich mich erstmal auf bspw. Boxen oder Grappling konzentriere.
Wenn ich das jetzt mal auf Polizei ummünze, würde ich vlt. mit Grappling und Prinzipien der Distanzüberbrückung beginnen, bevor ich etwa Boxen unterrichte...
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Re: Funktionalität von Trainingssystemen

Beitragvon Trooper » Sa 7. Dez 2013, 19:52

Anders gesagt, warum soll ich jemanden der SV lernen will, erstmal fünf Jahre lang Leistungssport betreiben lassen
Sollst du ja nicht. Aber eine Basis im sportlichen Kämpfen mit etwas einsatztaktischem Tuning ist meiner Ansicht der ökonomischste Weg zu brauchbaren Fähigkeiten. Kämpfen lernt man nunmal nur durch Kämpfen. Wenn ich ein guter Schwimmer werden möchte, bleibt mir auch nix anderes übrig als Runde um Runde im Pool zu drehen.
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