In Gelsenkirchen kam es nun binnen kurzer Zeit zwei Angriffe auf Rettungsdienstmitarbeiter.
Quelle: wdr.de
Brauchen Sanitäter bald Polizeischutz?
Von Ingo Neumayer
Gelsenkirchen. Ein Notruf aus dem Stadtteil Bismarck. Zwei Sanitäter werden von der Leitstelle zu einer Frau geschickt. Sie versorgen zunächst die Patientin, entscheiden sich dann, sie in die Klinik zu bringen. Als sie zu ihrem Rettungswagen gehen, um die Trage für den Transport zu holen, wird es laut. Drei Männer stürmen aus dem Haus, beschimpfen und schubsen die Sanitäter. Einer von ihnen geht zu Boden, dort wird er getreten. Die beiden Sanitäter flüchten in eine Tankstelle und müssen die Polizei um Hilfe rufen. Dann fahren sie in die Klinik - ohne die Patientin. Stattdessen müssen sie sich selbst behandeln lassen, sie haben Schürfwunden und Prellungen.
Nach Polizeiangaben vom Montag (19.09.2016) sollen die Angreifer aus gekränkter Familienehre gehandelt haben. Sie gaben an, dass sich einer der Sanitäter abfällig über die Körperfülle der Patientin geäußert habe. Das hätten der 25 Jahre alte Sohn der Frau und zwei Verwandte als ehrverletztend empfunden und die Sanitäter attackiert, hieß es vonseiten der Polizei.
Angriffe auf Sanitäter wie der in der Nacht auf Sonntag (18.09.2016) sind kein Einzelfall. Immer wieder werden Rettungskräfte bei ihren Einsätzen behindert, beschimpft, bespuckt und angegangen. Im Mai zerstachen in Essen Unbekannte vor einem Dialysezentrum die Reifen eines Rettungswagens im Einsatz. Der Transport verzögerte sich dadurch um eine Viertelstunde, der Patient starb wenig später im Krankenhaus. Zwar hätte er auch bei früherem Eintreffen in der Klinik nicht gerettet werden können, dennoch ermittelte die Polizei - allerdings ohne Erfolg.
Seit drei Jahren zunehmende Intensität
Für Christoph Schöneborn, den Landesgeschäftsführer des Verbandes der Feuerwehren (VdF) in NRW, ist der aktuelle Vorfall in Gelsenkirchen "in Ausmaß und Respektlosigkeit kaum noch zu überbieten". Seine Beobachtung: Die Übergriffe auf Feuerwehrleute und Rettungskräfte nehmen spürbar zu. "Seit etwa drei Jahren bemerken wir eine zunehmende Intensität bei diesen Taten. Die Polizei kennt dieses Phänomen ja schon länger, nun ist es auch bei uns angekommen", sagte er am Montag (19.09.2016) dem WDR.
Die Gewerkschaft für Beamte und Beschäftigte bei Land und Kommunen (Komba) hat ebenfalls einen Anstieg der Angriffe wahrgenommen. "Vielleicht werden Feuerwehrleute und Rettungskräfte heute stärker als Repräsentanten staatlicher Einrichtungen wahrgenommen als noch vor ein paar Jahren", vermutet Komba-Justiziar Michael Bublies. "Und die Abneigung mancher Menschen gegen staatliche Stellen ist nun mal sehr ausgeprägt. Wenn dann noch Uniformen und Vorrechte wie zum Beispiel Blaulichtfahrten dazukommen, ist die Eskalation schnell da."
Aktionsgruppe aus Ministerien und Gewerkschaften gebildet
Auch die Landespolitik beschäftigen die Vorfälle. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) erwähnte am Freitag (16.09.2016) in einer Videobotschaft Übergriffe auf Polizisten und Rettungskräfte als Indiz für den sinkenden Respekt in der Gesellschaft. Um diesem entgegenzuwirken, hat die Landesregierung die Aktion "Woche des Respekts" ins Leben gerufen. Zudem wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, in der sich Experten aus Innen- und Gesundheitsministerium, Unfallkasse und Gewerkschaften mit dem Phänomen beschäftigen.
Rettungswagen von Polizei begleiten?
Das Kriminalistik-Institut der Ruhr-Universität Bochum hat 2012 eine repräsentative Befragung unter Rettungskräften in NRW durchgeführt. Das Ergebnis: 98 Prozent der Rettungskräfte haben im erfassten Zeitraum verbale Gewalt erlebt, 59 Prozent der Befragten gewalttätige Übergriffe. Knapp ein Drittel (27 Prozent) der Befragten hat dabei strafrechtlich relevante Delikte erlebt. 70 Prozent der Übergriffe wurden von Patienten begangen, die sich gegen medizinische Handlungen zur Wehr setzten, der Rest von Angehörigen, Passanten, Schaulustigen oder Unbeteiligten.
Beim VdF geht man davon aus, dass die Zahlen seitdem noch einmal deutlich gestiegen sind. "In manchen Stadtteilen in Berlin ist die Lage inzwischen so schwierig, dass die Rettungswagen zu ihren Einsätzen grundsätzlich von der Polizei begleitet werden", sagt der VdF-Geschäftsführer Schöneborn. In NRW werde dies aber bislang nicht gemacht. "Eine solche Maßnahme zum Prinzip zu machen, erscheint auch unrealistisch. Das ist vom Personalaufwand gar nicht zu leisten", glaubt er. Nichtsdestotrotz hätte sich die Zusammenarbeit mit der Polizei in den vergangenen Jahren intensiviert.
Rettungskräfte denken über "Aufrüstung" nach
Auch die Ausstattung der Rettungswagen könnte sich ändern, sagt Schöneborn. "Natürlich müssen wir uns auch die Frage stellen, was wir selbst zu unserem Schutz unternehmen können. Braucht es noch mehr Deeskalationstraining? Müssen die Einsatzkräfte anders ausgerüstet werden?" Die Rettungskräfte selbst sehen die "Aufrüstung" der Ausrüstung allerdings eher problematisch. Nur 18 Prozent befürworten die Einführung einer Schutzweste. Die Bochumer Kriminologin Julia Schmidt ist sogar der Ansicht, dass das Tragen von Schutzwesten, Pfefferspray oder Schlagstöcken "eventuell brenzlige Situationen erst eskalieren lassen" könne.
Ist es in Berlin so, dass da automatisch Funkwagen und Rettung gleichzeitig ausrücken? Wie funktioniert das so in der Praxis?
Gibt es sonst Ansätze oder Konzepte, wie man dem Phänomen begegnet?